Pressemitteilung
Berlin, 03.12.2014

Studie des „Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM)“ der Humboldt-Universität zu Berlin verweist auf positive Identifikation mit Deutschland in allen gesellschaftlichen Lagern und über Herkunftsgrenzen hinweg. 25 Jahre nach dem Mauerfall definiert sich Deutschland vor allem über die Wiedervereinigung. Dass der Nationalsozialismus sich tief in die nationale Identität eingebrannt hätte und bis heute keine positive Identifikation mit der Nation zulasse, ist ein Mythos. Eine starke emotionale Verbundenheit und eine Aufwertung nationaler Identität führen dabei auch zu exkludierenden Einstellungen gegenüber der größten religiösen Minderheit – den Muslimen.
Die Bevölkerung in Deutschland hat ein positives Selbstbild und identifiziert sich stark mit ihrem Land. Je stärker jedoch die Identifikation, desto größer ist auch das Potenzial zum Ausschluss, was am Beispiel der Einstellungen gegenüber Musliminnen und Muslimen deutlich wird. Dies zeigen erste Ergebnisse einer repräsentativen Studie mit dem Titel „Deutschland postmigrantisch“, die an der Humboldt-Universität zu Berlin im Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) mit über 8200 Befragten durchgeführt und von der Stiftung Mercator gefördert wurde.
„Deutschland ist durch Migration demografisch vielfältiger geworden, und die Gesellschaft handelt ihre kollektive Identität neu aus. ‚Postmigrantisch‘ richtet den Blick auf die Gestaltung der Gesellschaft nach erfolgter Einwanderung“, so Dr. Naika Foroutan, stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) und Leiterin der Forschungsgruppe JUNITED, die diese Studie an der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführt hat.
„Vorurteile und Stereotype verhindern gesellschaftlichen Zusammenhalt und Teilhabe. Die pauschalen und negativen Einstellungen, die die Studie gegenüber Musliminnen und Muslime festgestellt hat, bergen eine große Gefahr für das gute Miteinander in Deutschland. Genau aus solchen falschen wie einfachen Bildern versuchen gerade rechtspopulistische Parteien Kapital für ihre menschenfeindlichen Ziele zu schlagen. Deshalb müssen wir alle – auch und insbesondere die Politik – den falschen Bildern, den Vorurteilen und Stereotypen entschieden entgegentreten“, so Aydan Özoğuz, Kuratoriumsvorsitzende des BIM und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration im Bundeskanzleramt.
Narrationen des Deutschseins: Was bedeutet nationale Identität für die Bevölkerung in Deutschland?
Patriotismus und emotionale Verbundenheit sind hoch
Eine deutliche Mehrheit (85 Prozent) der Bevölkerung sagt: „Ich liebe Deutschland“. Ausgangspunkt dieses positiven Selbstbildes ist die Wiedervereinigung. Sie stellt für 49 Prozent der Bevölkerung das historische Ereignis dar, welches Deutschland heute am besten beschreibt. Ereignisse im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg sind hingegen kaum mehr prägend für das Selbstbild (16 Prozent), und der Holocaust wird nur von 0,5 Prozent der Befragten genannt. Das widerspricht der jahrelang zementierten Wahrnehmung, Deutschland würde sich nur in einer negativen Identität wahrnehmen und könne dadurch nicht positiv mit seiner nationalen Identität umgehen. Dieser positive Bezug auf nationale Identität ist bei Anhängern aller politischer Parteien zu finden, wobei die Zustimmungswerte bei Wählern der Grünen und der LINKEN etwas geringer ausfallen.
Verbundenheit: Keine Unterschiede zwischen Deutschen mit und Deutschen ohne Migrationshintergrund
Auch bei den Deutschen mit Migrationshintergrund ist die Verbundenheit mit Deutschland hoch: 81 Prozent geben an, Deutschland zu lieben und 77 Prozent fühlen sich deutsch. Fast jedem zweiten Deutschen mit Migrationshintergrund (47 Prozent) ist es wichtig, als deutsch gesehen zu werden – genauso viel wie bei den Deutschen ohne Migrationshintergrund (47 Prozent Prozent). „Wir sehen hier deutlich, dass sich die nationalen Identitätsbezüge wandeln und ausweiten – immer mehr Menschen nehmen für sich in Anspruch, deutsch zu sein, auch wenn ihre Namen anders klingen und ihre Vorfahren nicht immer hier lebten. Dies ist eine grundlegend neue Situation in Bezug auf die Definition nationaler Identität. Die Sehnsucht danach offenbart sich in vielfältigen positiven Bezügen. Es liegt jedoch auch eine Gefahr darin, wenn diese Bezüge mit einer Exklusion der ‚Anderen‘ einhergehen, die für die Selbstdefinition konstruiert werden und sich dann in stereotypen Vorstellungen niederschlagen“, so Prof. Dr. Jan-Hendrik Olbertz, Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin.
Kriterien des Deutschseins offen und abwehrend zugleich
Deutschsein kann heutzutage erlernt und erworben werden, im Vergleich dazu spielen angeborene Merkmale eine geringere Rolle: Wichtig ist vor allem die Fähigkeit, deutsch sprechen zu können (97 Prozent), sowie der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit (79 Prozent). Trotzdem finden immerhin 37 Prozent der Bevölkerung weiterhin, dass deutsche Vorfahren wichtig sind, um Deutsche oder Deutscher sein zu können. Und über 40 Prozent der Bevölkerung sind der Meinung, man müsse dafür akzentfrei deutsch sprechen. Dieses sehr enge Verständnis von „korrekter Sprache“ als nationalem Kriterium offenbart eine fehlende Anerkennung der Realitäten einer Einwande-rungsgesellschaft, in der die Dynamik der Veränderungen auch die Sprache vielfältiger werden lässt.
Die Narrationen des Deutschseins bleiben an zentralen Punkten also immer noch exklusiv. Dies zeigt sich auch deutlich daran, dass 38 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, wer ein Kopftuch trage, könne nicht deutsch sein.
Winfried Kneip, Geschäftsführer der Stiftung Mercator, erklärt hierzu: „Die Studie zeigt am Beispiel von Einstellungen zu Muslimen auf, dass trotz eines insgesamt positiven Integrationsklimas Menschen mit Migrationshintergrund oft nicht als selbstverständlicher und gleichberechtigter Teil der Gesellschaft gesehen werden. Damit bestätigt sich die Dringlichkeit unserer Arbeit im Bereich Integration, in dem wir uns für chancengleiche Teilhabe aller in Deutschland lebender Menschen einsetzen.“
Exklusionen des Deutschseins – Muslime als Gegenüber und Gegenbild
Gleichwertigkeit und Zugehörigkeit werden in Frage gestellt
Exkludierende Vorstellungen in Deutschland werden am Beispiel der Stereotype gegenüber Muslimen – als der größten religiösen Minderheit – deutlich: Mehr als ein Viertel (27 Prozent) der Befragten denkt, dass Muslime aggressiver seien als sie selber, ein Drittel (30 Prozent) glaubt nicht, dass Muslime genauso bildungsorientiert seien wie ihre eigene Gruppe. Als eigene Gruppe wird auf Nachfrage auffallend oft (ca. 40 Prozent) „wir Deutschen“, „die deutsche Bevölkerung“, „die deutsche Gesellschaft“ oder ähnliches genannt. Muslimisch und deutsch werden dabei überwiegend als Gegenkategorien wahrgenommen und Muslime aus dem „deutschen Wir“ herausdefiniert.
Abstrakte Anerkennung hoch – aber wenn es konkret wird, dann fehlt die Bereitschaft zur Gewährung von Anerkennung und Partizipationsrechten
Die nicht-muslimische Bevölkerung hat eine ambivalente Haltung zu Muslimen als sichtbareren politischen Akteuren: Eine deutliche Mehrheit (67 Prozent) findet zwar, dass es das gute Recht von Muslimen in Deutschland ist, Forderungen zu stellen und ebenso viele sagen, man sollte Muslimen mehr Anerkennung entgegenbringen. Ein Fünftel (20 Prozent) der Bevölkerung aber ist der Meinung, wenn Muslime Forderungen stellten, dann sei dies ein Zeichen von Unverschämtheit und 17 Prozent empfinden dies als Zeichen von Undankbarkeit.
Die Ambivalenz findet ihren Ausdruck vor allem in den Haltungen zu politisch diskutierten Themen um strukturelle, kulturelle, sozial-räumliche und symbolische Anerkennung und Teilhabe: So sind 69 Prozent der Bevölkerung für den islamischen Religionsunterricht. Gleichzeitig wollen aber 60 Prozent der Befragten die Beschneidung von Jungen verbieten. Beinahe die Hälfte aller Deutschen (48 Prozent) findet, dass Lehrerinnen das Tragen des Kopftuchs nicht erlaubt sein sollte und 42 Prozent möchten den Bau von Moscheen einschränken.
Je relevanter die nationale Verbundenheit, desto deutlicher die Abwehr von Muslimen
Dort, wo die nationale Identität einen hohen Stellenwert einnimmt, ist die Bereitschaft, Muslimen kulturell-religiöse, sozialräumliche oder symbolische Rechte vorzuenthalten, signifikant höher. So möchten jene 46 Prozent, für die es besonders „wichtig ist, als Deutsche/r gesehen zu werden“ zu 68 Prozent die Beschneidung verbieten, zu 55 Prozent den Moscheebau und zu 56 Prozent das Kopftuch einschränken, während es bei jenen, bei denen die Wahrnehmung als deutsch keine Rolle spielt (51 Prozent) wesentlich geringere Werte sind: Gegen Beschneidung 54 Prozent, gegen Kopftuch 43 Prozent und gegen Moscheebau 35 Prozent. Der Ausschluss aus dem kollektiven deutschen Narrativ findet somit nicht nur auf einer diskursiv-emotionalen Ebene statt, sondern hat Auswirkungen auf die Anerkennung und die Partizipationsmöglichkeiten von religiösen Minderheiten – in diesem Falle Muslimen.
„Einstellungen müssen nicht zu Handlungen führen“, so Naika Foroutan, „aber hier ist Achtsamkeit geboten: Während die islamfeindlichen Einstellungen in der Bevölkerung quantitativ nicht ansteigen, nimmt die Handlungsbereitschaft zu, wie Moschee-Anschläge und die Hass-Attacken auf muslimische Einzelpersonen und Entscheidungsträger verdeutlichen. Die Qualität der Abwertungen, die auch aus der Mitte der Bevölkerung kommen, verschärft sich.“
Postmigrantisches Deutschsein: Wissen noch gering – aber Alltagskontakt weitet sich aus
Das Wissen über Muslime wird von der Mehrheit der Bevölkerung als gering eingeschätzt
In postmigrantischen Gesellschaften kommt es zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu verstärktem gegenseitigem Wissen, Wahrnehmung und Interaktion. Trotzdem schätzen noch immer 67 Prozent der nicht-muslimischen Befragten ihr eigenes Wissen über den Themenkomplex Islam und Muslime gering ein und ca. 70 Prozent überschätzen den Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung, der bei ca. 5 Prozent liegt – 23 Prozent überschätzen ihn sogar stark und gehen von Werten zwischen 21 Prozent und mehr aus. Das Wissen über Muslime wird aus Fernsehen (44 Prozent) und Zeitungen/Zeitschriften (39 Prozent) gezogen, zu einem etwa gleich hohen Anteil (43 Prozent) allerdings auch aus Gesprächen mit Muslimen.
Mehr Kontakträume und häufiger Kontakt zu Muslimen führen zu weniger stereotypen Einstellungen
Kontakte zwischen muslimischer und nicht-muslimischer Bevölkerung sind Teil des Alltags. Mehr als ein Drittel der Nicht-Muslime hat oft oder sehr oft Kontakt zu Muslimen im Bezugsraum Arbeit, ein Fünftel hat sehr viel Kontakt im Freundes- und Bekanntenkreis. Es zeigt sich, dass Personen, die in mindestens zwei Bezugsräumen (bspw. Arbeit und Freundes-/Bekanntenkreis) oft oder sehr oft Kontakt mit Muslimen haben, weniger stereotyp antworten als Personen, die weniger oder gar keinen Kontakt mit Muslimen haben.
Migrationsnarrative betreffen immer mehr Menschen – nicht nur jene mit Migrationshintergrund
Migrationsnarrative sind über familiale Bezugspunkte zunehmend in der deutschen Bevölkerung präsent. 35 Prozent der Bevölkerung geben an, selbst oder in der Verwandtschaft einen Migrationshintergrund zu haben.
Das führt zu einer Ausweitung von Migrationsbezügen in der deutschen Gesellschaft und zu der Frage, ob der ‚Mig-rationshintergrund‘ als Kategorie noch Aussagekraft besitzt.

  • Unsere Forschungsgruppe am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) regt an, im kommenden Jahr 2015 darüber nachzudenken, ob die Kategorie „Migrationshintergrund“ nach zehn Jahren aufgelöst werden kann. Der Begriff wurde im Jahr 2005 eingeführt und verhindert die Wahrnehmung des Deutschseins als vielfältiger Identitätsform, weil er eine künstliche Trennung zwischen Deutschen mit und ohne Migrationshintergrund schafft, die jedoch aufgrund vielfacher Familienrealitäten nicht mehr trägt.
  • Außerdem regen wir an, eine überparteiliche Leitbild-Kommission unter starker Einbeziehung von Zivilgesellschaft und Minderheitenvertretern zu berufen, um so wie Kanada und die USA es in den 1970er Jahren gemacht haben, über neue politik- und handlungsleitende Narrative nachzudenken, die der deutschen Einwanderungsidentität eine neue Erzählstruktur geben und die ‚Einheit der Verschiedenen‘, die Bundes-präsident Gauck beschrieben hat, mit Leben füllen. Sonst laufen wir Gefahr, dass rechtspopulistische Parteien die deutsche Identität exklusiv und unter Ausschluss von Minderheiten definieren. Hier schließen wir uns dem Aufruf der Jungen Islam Konferenz an (http://www.junge-islamkonferenz.de/enquete-kommission.html), die durch die Forschungsgruppe JUNITED seit mehreren Jahren wissenschaftlich begleitet wird.

Die Forschungsgruppe JUNITED
Die Forschungsgruppe JUNITED – Junge Islambezogene Themen in Deutschland untersucht das Reaktionsspektrum auf das sich wandelnde Einwanderungsland Deutschland in Bezug auf die Themen Islam und Muslime aus transdisziplinärer Perspektive. Die Forschungsgruppe ist unter der Leitung von Dr. Naika Foroutan im Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelt. JUNITED ist ein Förderprojekt der Stiftung Mercator.
http://junited.hu-berlin.de
Das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung
Das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) wird durch die Gemeinnützige Hertie-Stiftung (Förderpartner), den Deutschen Fußball-Bund (DFB / Förderpartner), die Bundesagentur für Arbeit (BA / Unterstützungspartner) und die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Unterstützungspartnerin) gefördert und unterstützt.
www.bim.hu-berlin.de
Die komplette Studie und der Methodenbericht sind hier abrufbar:
http://junited.hu-berlin.de/deutschland-postmigrantisch
Kontakt: Dipl.-Pol. Damian Ghamlouche (BIM). Tel.: (030) 220 15 705. d.ghamlouche@hu-berlin.de

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Lothar Kuhn
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