Pressemitteilung
Berlin, 16.02.2016

Eine etwaige Einschränkung der Freizügigkeit anerkannter Flüchtlinge in Deutschland sollte die Voraussetzungen für eine gelingende Integration berücksichtigen, insbesondere die Verfügbarkeit von Wohnraum und Arbeitsplätzen. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration nennt Kriterien, die bei einer befristeten Einführung einer Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge beachtet werden sollten.
Angesichts des hohen Flüchtlingszuzugs innerhalb eines äußerst kurzen Zeitraums und einer sehr ungleichmäßigen Verteilung von Menschen mit Schutzstatus wird derzeit die Frage diskutiert, ob eine Wohnsitzauflage ein geeignetes Instrument zur Binnensteuerung der Flüchtlingsverteilung in Deutschland sein kann. Eine solche Wohnsitzauflage würde für anerkannte Flüchtlinge eine Einschränkung ihrer freien Wohnortwahl für einen gewissen Zeitraum bedeuten und den sog. Königsteiner Schlüssel ergänzen, der für die Verteilung von Schutzsuchenden auf die Bundesländer in der Antragsphase maßgeblich ist.
Ein solch erheblicher Eingriff in das Freizügigkeitsrecht steht unter entsprechendem Begründungsdruck. Dies bedarf einer klugen Ausgestaltung, damit auch die beabsichtigten Wirkungen erzielt werden. Hierbei sieht der SVR die Argumente, die aus der Bundespolitik, vom Deutschen Städtetag und dem Landkreistag vorgebracht werden: Danach kann erstens die derzeitige Konzentration von anerkannten Flüchtlingen vor allem in Großstädten und Ballungszentren in Westdeutschland integrationshemmend wirken, wenn der dortige Arbeits- und Wohnungsmarkt nicht hinreichend aufnahmefähig ist. Es besteht zweitens die Gefahr eines verminderten Kontakts zur Mehrheitsbevölkerung, auch wenn ethnische Communities zugleich hilfreich sein können, z. B. bei der Vermittlung von Arbeitsmöglichkeiten. Zu berücksichtigen ist drittens die Perspektive der Kommunen, die erhebliche Mittel in den Aufbau von Wohnraum, Sprach- und Förderkursen etc. investieren, ohne dass sie derzeit absehen können, wie lange und in welchem Umfang diese Angebote benötigt werden.
Der SVR gibt allerdings zu bedenken, dass Zwangszuweisungen auch integrationshemmende Effekte haben können, da sie den persönlichen Entscheidungsspielraum einschränken und sofern sie z. B. Familienzusammenführungen verhindern. Eine integrationsförderliche Wirkung von Ansiedlungs-politiken ist (wie die Forschung zeigt) zudem nur dann gegeben, wenn die lokalen Arbeitsmärkte aufnahmebereit sind und anerkannte Flüchtlinge am zugewiesenen Ort eine adäquate Arbeit finden können. Vielfach wird allerdings in der ersten Zeit nach der Anerkennung der Erwerb der sprachlichen und beruflichen (Nach)Qualifikation im Vordergrund stehen. Zentral ist daher auch, dass an den Wohnorten eine Infrastruktur zur Verfügung steht, die den Flüchtlingen gerade dies ermöglicht.
Vor diesem Hintergrund empfiehlt der SVR, bei einer Einschränkung der freien Wohnortwahl durch die Einführung einer Wohnsitzauflage folgende Kriterien zu berücksichtigen:

  • sie sollte die Freizügigkeit von anerkannten Flüchtlingen nur für eine begrenzte Zeit (etwa für 2 Jahre) einschränken,
  • sie sollte nur gelten, solange anerkannte Flüchtlinge noch keinen Arbeitsplatz haben und ihren Lebensunterhalt noch nicht aus eigener Kraft bestreiten können,
  • sie sollte eine Arbeitssuche auch in anderen Regionen eröffnen,
  • sie sollte Härtefallregelungen vorsehen, die etwa eine Familienzusammenführung ermöglichen,
  • es muss gewährleistet sein, dass Menschen mit Schutzstatus in den Kommunen integrationsfördernde und (nach)qualifizierende Maßnahmen offen stehen (Integrations- und berufsbezogene Sprachkurse, Ausbildung, Maßnahmen der Arbeitseingliederung),
  • entsprechend sollten die Regionen, für die die Wohnsitzauflage gilt, möglichst weit gefasst werden (bspw. auf der Ebene von Arbeitsagenturbezirken),
  • schließlich sollte ein entsprechendes Gesetz befristet, mit einer Prüfklausel versehen und mit Blick auf seine Wirkungen einer Evaluation unterzogen werden.

Eine derart ausgestaltete Einschränkung der freien Wohnortwahl, die dem Kriterium der Verhältnismäßigkeit entspricht, hält der SVR in Abwägung der Vor- und Nachteile für vertretbar und angemessen, auch angesichts der rasch erforderlichen und enormen Integrationsleistung in den Kommunen. Eine weitere Voraussetzung ist, dass ein für März erwartetes Urteil des Europäischen Gerichtshofs einer solchen Maßnahme mit Blick auf die Vereinbarkeit mit dem europäischen Recht nicht entgegensteht.
„Eine Wohnsitzauflage sollte mit Augenmaß ausgestaltet werden und sie muss mit einer klaren Perspektive auf Integration verbunden sein“, betonte die SVR-Vorsitzende Prof. Dr. Christine Langenfeld. „Mittelfristig ist bei sinkenden Zuzugszahlen klar die Rückkehr zu einer freien Wohnortwahl für anerkannte Flüchtlinge geboten. Dabei sollte die Frage des Zuzugs oder Verbleibs in Kommunen in erster Linie durch attraktive Lebensbedingungen dort und nicht durch Einschränkungen der Bewegungsfreiheit gesteuert werden“, sagte die SVR-Vorsitzende. Hierzu könnte dann auch eine Weiterentwicklung des Königsteiner Schlüssels beitragen, sofern dieser um Kriterien der Aufnahmefähigkeit von Kommunen (Wohnraum, Arbeitsmarkt, Ausbildungssystem) ergänzt wird.
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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration geht auf eine Initiative der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung zurück. Ihr gehören sieben Stiftungen an. Neben der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung sind dies: Bertelsmann Stiftung, Freudenberg Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und Vodafone Stiftung Deutschland. Der Sachverständigenrat ist ein unabhängiges und gemeinnütziges Beobachtungs-, Bewertungs- und Beratungsgremium, das zu integrations- und migrationspolitischen Themen Stellung bezieht und handlungsorientierte Politikberatung anbietet. Die Ergebnisse seiner Arbeit werden in einem Jahresgutachten veröffentlicht.
Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Christine Langenfeld (Vorsitzende), Prof. Dr. Hacı Halil Uslucan (Stellvertretender Vorsitzender) sowie Prof. Dr. Gianni D’Amato, Prof. Dr. Thomas K. Bauer, Prof. Dr. Petra Bendel, Prof. Dr. Wilfried Bos, Prof. Dr. Claudia Diehl, Prof. Dr. Heinz Faßmann und Prof. Dr. Christian Joppke.
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