Zwar ist nachvollziehbar, dass sich die Kommission mit einem Quasi-Boykott der Blue Card seitens vieler Mitgliedstaaten nicht abfinden will. Die mit dem vorliegenden Richtlinienentwurf de facto geplante Volleuropäisierung der Arbeitsmigrationspolitik ist aber in Brexit-Zeiten die falsche Antwort.
Mit ihrem Vorschlag einer Generalüberholung der Blue Card versucht die EU-Kommission, dieses Instrument zur Anwerbung von hoch qualifizierten Drittstaatsangehörigen wiederzubeleben, das ursprünglich als europäische Antwort auf die einwanderungspolitischen Offerten klassischer Einwanderungsländer wie den USA, Kanada oder Australien gedacht war. Das Ziel, Europa im Wettbewerb um die klügsten Köpfe wettbewerbsfähiger zu machen, ist bislang allerdings verfehlt worden. Denn viele EU-Mitgliedstaaten – mit Ausnahme von Deutschland und Luxemburg – haben die Blue Card nur pflichtschuldig umgesetzt und sie den jeweiligen nationalstaatlichen Anwerbeinstrumenten nachgeordnet. „Der kalte Boykott der Blue Card durch eine Mehrzahl der Mitgliedstaaten führt dazu, dass für Hochqualifizierte aus Drittstaaten aufenthaltsrechtlich de facto ein Flickenteppich aus 28 verschiedenen Einzelmaßnahmen besteht. Der Vorschlag der Kommission zur Reform der Blue Card als EU-weites und damit europäisches Instrument geht aber zu weit“, sagte Prof. Dr. Thomas Bauer, Mitglied des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Zwar bleibt auch in der Neuvorlage – zu Recht – der Grundsatz bestehen, dass die entscheidende Voraussetzung für die Zuwanderung von hoch qualifizierten Drittstaatsangehörigen in die EU ein vorliegender Arbeitsvertrag ist. Auch die Entscheidung, wie viele Zuwanderer im Rahmen des Blue-Card-Systems aufgenommen werden, obliegt weiterhin den Regierungen der jeweiligen Mitgliedstaaten. Allerdings sieht der Vorschlag der EU-Kommission vom 7. Juni 2016 zwei zentrale und weitgehende Neuerungen vor, die in ihrer Kombination gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen aufgeheizten politischen Situation, in der der Ruf nach mehr Europa (in einem so sensiblen Bereich wie der Einwanderung) auf Widerstand stößt, kritisch hinterfragt werden sollten.
Zum einen soll die Blue Card das gemeinsame und ausschließliche Instrument der Mitgliedstaaten zur Anwerbung von Fachkräften aus Drittstaaten werden. „Nationalstaatliche Verfahren der Einwanderungssteuerung würden der Blue Card weitgehend nachgeordnet“, erläuterte Prof. Bauer. „Drittstaatsangehörige, die die Bedingungen für eine Blue Card erfüllen, müssen nach den Plänen der EU-Kommission eine solche auch erhalten und können nicht mehr auf die nationalen Aufenthaltstitel verwiesen werden.“ Brisant ist diese ‚Vorfahrtsregelung‘ vor allem insofern, als die Voraussetzungen für die Erteilung einer Blue Card deutlich gelockert und die Zielgruppe stark erweitert werden sollen: für eine Blue Card sollen laut vorliegendem Entwurf nicht mehr nur Akademiker in Frage kommen, sondern auch Fachkräfte ohne Hochschulabschluss. Zudem wird das für eine Blue Card erforderliche Mindestgehalt deutlich abgesenkt: War bislang als Untergrenze das Anderthalbfache des durchschnittlichen Bruttogehalts eines Landes vorgesehen, fordert die Kommission im vorliegenden Richtlinienentwurf lediglich ein Mindestgehalt, das das Durchschnittsgehalt nicht unter- und das 1,4-fache dieses Werts nicht überschreiten soll. Für Fachkräfte in Mangelberufen und Akademiker, deren Hochschulabschluss weniger als drei Jahre zurückliegt, sollen nach den Plänen der EU-Kommission als Mindestgehalt sogar nur 80 Prozent des Wertes gelten, den die Mitgliedstaaten für die Regelberufe festgelegt haben. Bislang liegt die Untergrenze hier beim 1,2-fachen des durchschnittlichen Bruttogehalts. Die Option einer Vorrangprüfung, auf die Deutschland schon im Rahmen der Umsetzung der aktuell gültigen Richtlinie ganz verzichtet hat, soll für die EU-Mitgliedstaaten künftig nur noch eingeschränkt bestehen, beispielsweise bei hoher sektoraler oder regionaler Arbeitslosigkeit.
Der Sachverständigenrat hat sich zwar stets für eine „Rettung der Blue Card“ als europäisches Instrument ausgesprochen, doch die EU-Kommission schießt mit ihrem Vorschlag über das Ziel hinaus: „Bauchschmerzen bereitet der ‚Doppelschritt‘ der Kommission, zuerst die Blue Card für alle unter ihren Anwendungsbereich fallenden Drittstaatsangehörigen für verbindlich zu erklären und im gleichem Atemzug genau diesen Anwendungsbereich massiv zu erweitern. Der mangelhaften Umsetzung der Blue Card zahlreicher Mitgliedstaaten begegnet die Kommission nun also mit der unionsrechtlichen Brechstange“, sagte Prof. Bauer.
Für Deutschland ergebe sich zwar im Bereich der Hochqualifizierten aus Drittstaaten kaum Änderungsbedarf, da die Blue Card hierzulande schon jetzt als das zentrale Instrument zu ihrer Anwerbung etabliert sei. Für viele andere Mitgliedstaaten würde die vorgeschlagene Neufassung der Hochqualifizierten-Richtlinie allerdings weitgehende Veränderungen der Fachkräfteanwerbung erforderlich machen; diese müssten ihre nationalen Einwanderungsprogramme auf Personen beschränken, die von der Blue Card nicht erfasst werden. Nationale Regelungen würden damit nur noch eine Nebenrolle spielen. An ihre Stelle träte verpflichtend die Blue Card.
Nun sei, so Prof. Bauer weiter, der Richtlinienvorschlag natürlich Monate vor dem britischen Referendum entwickelt worden, angesichts des derzeitigen Brexit-Blues sei jedoch mehr als fraglich, ob eine solche weitgehende Europäisierung in den Mitgliedstaaten gegenwärtig auf Akzeptanz stoße.
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