Die Zuwanderungspolitik in Deutschland muss „mit mutigen Konzepten zukunftsfester“ werden. Das forderte der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) heute in Berlin bei der Vorstellung seines zweiten Jahresgutachtens mit dem Titel „Migrationsland 2011“. Das Gutachten analysiert und bewertet Zuwanderung, Ab- bzw. Auswanderung und Migrationspolitik in Deutschland vor internationalem Hintergrund. Dazu wurden erstmals in einem SVR-Migrationsbarometer mehr als 2.450 Personen mit und ohne Migrationshintergrund nach ihren Einschätzungen und Bewertungen von Migration und Migrationspolitik befragt. Im Ergebnis sieht der SVR eine Kluft zwischen erregten publizistischen und politischen Diskursen und durchaus pragmatisch-nüchternen Einschätzungen im Alltag der Bürgergesellschaft. Der SVR-Vorsitzende Prof. Klaus J. Bade fordert daher „ein Ende des Versteckspiels der Politik mit den angeblichen Ängsten der Bevölkerung“ und „mehr Mut zu klaren und nachvollziehbaren Konzepten in der Migrationspolitik“. Das gelte für Abwanderung und Zuwanderung ähnlich wie für die Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden.
Zuwanderungspolitik besser, aber noch nicht zukunftsfest genug
Deutschland hat in den vergangenen Jahren sein Instrumentarium der Zuwanderungssteuerung vorsichtig neu justiert. Seit langem schon ein Erfolgsfall der Migrationssteuerung ist die öffentlich wenig beachtete temporäre und saisonale Zuwanderung in niedrig qualifizierte Tätigkeiten. 2010 wurden in 289.000 Fällen Arbeitskräfte nach Deutschland vermittelt, die nach dem Ende ihrer befristeten Tätigkeit das Land wieder verlassen haben. Nach anfänglichen Stolperschritten ist aber auch die Zuwanderung von Fachkräften verstärkt in Gang gekommen: von 2005 bis 2009 sind zwar nur 629 ausländische Hochqualifizierte (nach § 19 AufenthG) zugezogen. Darüber hinaus sind 2009 aber rund 16.000 Fachkräfte mit teilweise zunächst befristeter Aufenthaltsperspektive zugewandert. Dieser Zuwachs ist freilich immer noch zu niedrig, um den wachsenden Fachkräftemangel sowie die starke Abwanderung von Qualifizierten aus Deutschland auszugleichen. In den letzten 15 Jahren haben über eine halbe Million mehr Deutsche das Land verlassen als zurückgekehrt sind. Das Niveau der Abwanderung in andere europäische Staaten nach Bildungsabschlüssen und beruflicher Qualifikation liegt dabei höher als das der Erwerbsbevölkerung in Deutschland. Die statistisch als „deutsche Rückwanderung“ gezählte Zuwanderung von Spätaussiedlern ist dabei heraus gerechnet.
Während es jahrzehntelang hohe, von der Politik vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosenzahlen oft als bedrohlich vorgestellte Zuwanderungsgewinne gab, schrumpften die Wanderungsgewinne in Deutschland seit Jahren immer mehr, bis schließlich 2008 und 2009 erstmals Wanderungsverluste zu verzeichnen waren (2009: minus 13.000). Der fehlende Puffer zur Abfederung wird den beschleunigten demografischen Wandel am Arbeitsmarkt noch härter durchschlagen lassen. „Wir sind noch im Vorfeld des demografischen Orkans. Wenn der doppelte Abiturientenjahrgang 2013 seinen Weg auf den Arbeitsmarkt gefunden hat, wird es rasch stürmischer werden“, sagte Bade voraus. Der SVR fordert deshalb neben einer auch nachholenden Qualifikationsoffensive, die alle verfügbaren Potenziale erschließt, zusätzliche Reformschritte, um mehr hochqualifizierte Fachkräfte für den Zuzug nach Deutschland zu gewinnen.
Dafür gibt es Rückhalt in der Bevölkerung. Die Ergebnisse des SVR-Migrationsbarometers zeigen: Eine klare Mehrheit von rund 60 Prozent der Befragten mit und ohne Migrationshintergrund befürwortet eine stärkere Zuwanderung von Hochqualifizierten.
Aktuell nötig:
Drei-Säulen-Modell der Zuwanderungsförderung
Zur aktuellen Reform der Zuwanderungssteuerung empfiehlt der SVR zunächst ein Drei-Säulen-Modell:
Zukunftsforderung:
Deutschland muss sich migrationspolitisch „runderneuern“
„Auf weite Sicht braucht Deutschland eine mutige Generalüberholung seines migrationspolitischen Steuerungssystems, wenn es den demo-ökonomischen Herausforderungen der Zukunft gewachsen sein will“, erklärte Bade. Deutschland ist ein bald demografisch vergreisendes und schrumpfendes Migrationsland, das nur über eine einzige Ressource verfügt: das sog. Humankapital, also eine möglichst qualifizierte Erwerbsbevölkerung.
Neben der Qualifikationsförderung im Innern ist deswegen eine migrationspolitische Offensive nötig. Dazu gehören mehrere Komponenten: a) der Versuch, die eigenen Spitzenkräfte im Land zu halten oder doch nicht auf Dauer zu verlieren; b) eine zumindest ausgleichende, möglichst dauerhafte Zuwanderung von Hochqualifizierten; c) eine teils dauerhafte, teils befristete Zulassung von Fachkräften und d) eine befristete bzw. saisonale Zulassung von Arbeitswanderungen in niedrig qualifizierte Beschäftigungsbereiche.
Dazu braucht das Land ein klares und politisch mutiges Gesamtkonzept. Es gibt dazu schon funktionstüchtige Aggregate. Sie müssen aber noch ergänzt und abgestimmt werden zu einem möglichst flexiblen und unbürokratischen Gesamtkonzept, das für die Bürger klar und nachvollziehbar ist. „Deutschland muss sich migrationspolitisch runderneuern“, erklärte der SVR-Vorsitzende. Wenn das gelinge, könne „Deutschland als Migrationsland im demografischen Wandel ein Modellprojekt“ werden.
Politik unterschätzt den Migrationsrealismus in der Bürgergesellschaft
Der SVR bekräftigt seine Forderung: Um die Abwanderung von Spitzenkräften aus Deutschland zu bremsen und die Zuwanderung solcher Kräfte zu steuern, muss Deutschland im Inneren und nach außen attraktiver werden. Bade: „Sonst gehen die, die wir brauchen und zureichender Ersatz bleibt aus. Beides hat mit dem gleichen Mangel an Attraktivität zu tun.“
Die Bürger sehen dies klarer als die Politik glaubt:
Die Ergebnisse der SVR-Befragung von November/Dezember 2010 zeigen: ein hohes Informationsniveau, eine weitgehend realistische Einschätzung der Migrationsverhältnisse und differenzierte Erwartungen an die künftige Migrationspolitik. Mehr als die Hälfte der Befragten hält z. B. die Abwanderung aus Deutschland für zu hoch und deshalb für problematisch. Dieser Ansicht waren 64,2 Prozent der Be-fragten ohne Migrationshintergrund und 61,6 Prozent der Befragten mit Migrationshintergrund.
Das Migrationsbarometer belegt auch eine überraschend hohe Zustimmung zu einer verstärkten Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden: 48,5 Prozent der Befragten ohne Migrationshintergrund und 40,9 Prozent der Zuwandererbevölkerung befürworten dies. „Auch hier verwechselt Politik die nüchternen Einschätzungen der Bürgergesellschaft oft mit hysterischen publizistischen Diskursen“, erklärte der SVR-Vorsitzende. Politik sollte die Einsicht der Bürger in Sachen Migration nicht länger unterschätzen. Aufgegeben werden sollte „die handlungslähmende bzw. Nichthandeln legitimierende Berufung auf eine angeblich verbreitete ‚Das Boot ist voll‘-Panik.“ Der SVR empfiehlt, als ergänzendes Instrument der humanitären Flüchtlingsaufnahme Resettlement-Programme zu nutzen, die besonders Schutzbedürftige erreichen.
Herkunftsländer:
Kulturpanik erschwert Zuwanderungspolitik
Das SVR-Jahresgutachten prüft weiter, welche Länder künftig als Ausgangsräume für eine Zuwanderung (hoch-)qualifizierter Arbeitskräfte in Frage kommen könnten. Dies sind neben osteuropäischen Ländern, in denen aufgrund der demografischen Entwicklung die Zuwande-rungspotenziale allerdings abnehmen, u. a. auch die vorwiegend muslimisch geprägten Staaten Nordafrikas. Der SVR warnt daher dringend vor „auch wirtschaftsfeindlicher populistischer Kulturpanik“.
Innenpolitisch und wahltaktisch motivierte kulturalistische Abwehrhaltungen gegenüber Zuwanderung aus Ländern mit überwiegend muslimischer Bevölkerung werden nicht nur von muslimischen Fachkräften innerhalb und außerhalb Deutschlands aufmerksam registriert. Sie schaden auch ganz allgemein dem Zuwanderungsstandort Deutschland. Bade: „Statt Populismus brauchen wir pragmatische Offenheit, eine kritische Willkommenskultur und institutionelle Maßnahmen wie z.B. eine stärkere Einbindung der Konsulate und der Außenhandels-kammern bei der Anwerbung qualifizierter Zuwanderer.“
Nordafrika:
Migrations-, Entwicklungs- und Flüchtlingspolitik
Angesichts der Umbruchsituation in den nordafrikanischen Ländern muss die EU ihre Migrations- und Flüchtlingspolitik überdenken. Die ‚Festung Europa‘ darf sich nicht länger darauf beschränken, ihre Außengrenzen abzuschotten. Praktische und kontrollierbare Initiativen zur Bekämpfung der Ursachen unfreiwilliger Wanderungen müssen einen höheren Stellenwert erhalten. Die EU muss zusätzlich in überschaubarem Umfang legale Zuwanderungswege eröffnen.
Ein mögliches Instrument dazu sind zirkuläre Migrationsprogramme, die eine engere Ver-knüpfung von Entwicklungs- und Migrationspolitik bieten und auf EU-Ebene bereits seit einiger Zeit erörtert werden. Sie orientieren sich am Arbeitsmarktbedarf der Aufnahmeländer und verfolgen zugleich entwicklungspolitische Ziele. Vom SVR in Auftrag gegebene Simulationsmodelle aber zeigen: Zielorientiert wirken zirkuläre Migrationsprogramme nur, wenn alle drei Beteiligten darin Vorteile sehen, nämlich Zuwanderungsräume, Herkunftsländer und die Migranten selbst. Dazu aber sind in den Ausgangsräumen Entfaltungsbedingungen nötig, die es dort oft noch nicht gibt, insbesondere Rechtssicherheit, eine korruptionsfreie Bürokratie und entwicklungsfähige wirtschaftliche Rahmenbedingungen.
Akut muss die EU insbesondere den nordafrikanischen Ländern Entwicklungsperspektiven bieten. Die von der EU-Kommission ins Auge gefassten erleichterten Handelsbeziehungen, Visaerleichterungen im Rahmen von Mobilitätspartnerschaften, ein Studentenaustauschprogramm und Regelungen für legale Arbeitsmigration weisen in die richtige Richtung. Notwendig aber wäre letztlich eine Art Marshall-Plan für Nordafrika. Dann könnten hier auch zirkuläre Migrationsprogramme eingesetzt werden.
Weil die Grenzen zwischen Flucht- und Wirtschaftswanderungen fließend sind, sollten bei der Flüchtlingsaufnahme in gewissem Umfang auch Interessen des Aufnahmelandes eine Rolle spielen dürfen. Das darf nicht auf Kosten humanitärer Verpflichtungen gehen. Vermieden werden sollte aber, dass im Extremfall (wie in der Vergangenheit unzählige Male geschehen) qualifizierte Flüchtlinge zurückgeschickt werden, während man gleichzeitig genau diese Berufsgruppen mit geringem Erfolg als qualifizierte Zuwanderer sucht. Wie eine pragmatische Übernahme von Kontingenten aus dem Flüchtlingsbereich in den Einwanderungsbereich gestaltet werden kann, ohne die humanitäre Dimension als solche in Frage zu stellen, zeigt das Beispiel Kanadas.
Die Ursachen, Begleitumstände und Folgeerscheinungen globaler Megakrisen und regionaler Desaster aber werden immer komplexer. Umso komplexer müssen Konzepte eines ‚global migration management‘ gedacht werden, wenn sie den absehbaren globalen Herausforde-rungen gewachsen sein sollen.
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Dorothee Winden
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