Pressemitteilung
Berlin, 25.04.2017

Das SVR-Jahresgutachten 2017 unterbreitet Vorschläge für eine Weiterentwicklung der EU-Flüchtlingspolitik. Stufenmodell für EU-weite Freizügigkeitsrechte anerkannter Flüchtlinge als Weg zu einer fairen Verantwortungsteilung in der EU. Eine engere Zusammenarbeit mit Transitländern ist realpolitisch unerlässlich, aber Menschenrechte müssen gewahrt werden. SVR-Analyse der politischen Neuregelungen zur Integration von Flüchtlingen in Deutschland zeigt Handlungsbedarf in der Praxis, insbesondere bei Bildung: schnellen Schulzugang sicherstellen, flexible Ausbildungsmodelle schaffen.
Die Europäische Union steht nach der großen Fluchtzuwanderung vor allem der Jahre 2015/2016 vor der Herausforderung, die Konstruktionsfehler der EU-Flüchtlingspolitik zu beheben; Deutschland steht vor der Aufgabe, anerkannte Flüchtlinge zu integrieren. In Deutschland wurden nach der Einreise von rund 890.000 Asylbewerbern (allein im Jahr 2015) zahlreiche rechtliche Änderungen beschlossen. Das achte SVR-Jahresgutachten untersucht entsprechend Fortschritte und Handlungsbedarf in der europäischen Migrations- wie der deutschen Integrationspolitik. Dabei vermeidet das Gutachten eine reine Krisenperspektive, sondern richtet den Blick auch auf die Chancen, die sich aus der Krise ergeben – für Europa und für Deutschland.
„Für einen Neustart in der EU-Flüchtlingspolitik brauchen wir mehr Europa und ein anderes Europa zugleich“, sagte Prof. Dr. Thomas Bauer, Vorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) bei der Vorstellung des Jahresgutachtens ins Berlin. Im Sinne eines ‚mehr an Europa‘ unterstützt der SVR die derzeit von der EU-Kommission in bestimmten Bereichen vorangetriebene Europäisierung der Asylpolitik. Dazu gehören die Aufwertung der Grenzschutzagentur Frontex und des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) ebenso wie die Bemühungen, eine einheitlichere Anwendung von vereinbarten EU-Regeln zur Flüchtlingsaufnahme durch die Mitgliedstaaten zu erreichen. Darüber hinaus spricht sich der SVR perspektivisch für eine gemeinsame Liste sog. sicherer Herkunftsländer aus. Eine solche EU-weit einheitliche und verbindliche Liste sicherer Herkunftstaaten würde die Rolle der EU stärken und eine Gleichbehandlung von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten fördern. Ähnliches gilt für den Bereich der Rückführung. Hier könnte die EU, wenn sie mit einer Stimme spricht, bei Verhandlungen mit den Herkunftsländern sowohl bei der geförderten Rückkehr als auch bei Abschiebungen bessere Lösungen erzielen als jeder Mitgliedstaat allein.
Als Rezept zur Lösung der derzeitigen Krise der EU-Flüchtlingspolitik reicht aber ein bloßes ‚mehr Europa‘ nicht aus. Die europäische Politik muss sich ändern. Im Bereich von Flucht und Asyl ist ein ‚anderes Europa‘ mit neuen Ideen erforderlich, die eine flexiblere Kooperation ermöglichen. Dies gilt v. a. für die Achillesferse der EU-Asylpolitik, den fehlenden Mechanismus einer innereuropäischen Verantwortungsteilung. Aus Sicht des SVR spricht viel dafür, die als Dublin-Regel bekannte Zuständigkeitsregel beizubehalten, wonach der Staat der Ersteinreise grundsätzlich für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Unbedingt ergänzt werden muss diese Regel allerdings um einen Mechanismus der Verantwortungsteilung, der die Staaten an den EU-Außengrenzen, die aufgrund ihrer geografischen Lage besonders gefordert sind, nicht alleine lässt. Ein ‚anderes Europa‘ schlägt der SVR daher hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der Verantwortungsteilung vor. Im Mittelpunkt stehen dabei an Bedingungen geknüpfte Freizügigkeitsrechte für anerkannte Flüchtlinge.
Der SVR hatte diese Idee bereits in seinem Jahresgutachten 2015 ins Spiel gebracht. Im vorliegenden Gutachten werden nun verschiedene Szenarien zur Ausgestaltung dieser Rechte entwickelt.

  • Als Minimalvariante könnten verschiedene Richtlinien zur Arbeitsmigration für anerkannte Flüchtlinge geöffnet werden, beispielsweise für Saisonarbeiter oder Hochqualifizierte. Anerkannte Flüchtlinge könnten dann die durch die Richtlinien eröffneten Freizügigkeitsrechte in Anspruch nehmen.
  • Weitergehend wäre ein Vorschlag, die Mobilitätsrechte anerkannter Flüchtlinge tendenziell an die von Unionsbürgern anzugleichen. Danach wäre ein Umzug anerkannter Flüchtlinge in einen anderen EU-Mitgliedstaat dann möglich, wenn es ihnen gelingt, dort einen Arbeitsplatz zu finden. Zu Nutze machen würde sich diese Überlegung die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der jüngst die Freizügigkeit von Unionsbürgern wieder stärker an wirtschaftliche Aktivität im Zielland rückgekoppelt hatte.
  • Schließlich wäre denkbar, Mobilitäts- und Sozialrechte für diese Gruppe temporär zu entkoppeln und anerkannten Flüchtlingen, die von Weiterwanderungsmöglichkeiten Gebrauch machen, für eine Übergangszeit im Zielland nur reduzierte Sozialleistungen zu gewähren. Für Unionsbürger in Deutschland besteht bereits jetzt in bestimmten Fällen ein fünfjähriger Ausschluss von Sozialleistungen.

„Die Szenarien bieten einen Spielraum für die politische Umsetzung. Damit könnte es – auch schrittweise – zu einer neuen Form der Arbeitsteilung in Europa kommen“, sagte Bauer. Die EU-Mitgliedstaaten könnten künftig unterschiedliche Beiträge zur Lösung des gemeinsamen Problems erbringen; die EU-Kommission spricht hier von ‚flexibler Solidarität‘. Für die Durchführung der Asylverfahren und die Rückführung abgelehnter Asylbewerber wären weiterhin die Staaten an den EU-Außengrenzen zuständig, allerdings mit Unterstützung der EU und konkret durch Frontex und EASO. Der Beitrag der Staaten in Nord- und Westeuropa wäre hingegen eine schrittweise Öffnung ihrer Arbeitsmärkte für anerkannte Flüchtlinge; sie würden also für deren Integration stärker als bislang die Verantwortung übernehmen, sofern ihre wirtschaftliche Entwicklung das zulässt und der Arbeitsmarkt aufnahmefähig ist.
Bis heute äußerst umstritten ist die Frage nach den Chancen und Risiken einer verstärkten Kooperation der EU mit Drittstaaten. Prominentestes Beispiel ist die landläufig als ‚Deal‘ bezeichnete EU-Türkei-Erklärung. Der SVR unterstützt dabei grundsätzlich die zugrundeliegende Idee, über die Kombination eines Umsiedlungs- und eines Rückführungsprogramms klare Signale zu senden: Zum einen, dass durch eine irreguläre Einreise die Chancen, Aufnahme in der EU zu finden, verringert werden. Zum anderen, dass die Möglichkeit besteht, über ein Umsiedlungsprogramm regulär und ohne Schlepper nach Europa zu kommen, wenn eine irreguläre Einreise unterbleibt. Defizite sieht der SVR jedoch in der Praxis: die Situation in den überfüllten Aufnahmelagern auf den griechischen Inseln sollte verbessert und eine menschenwürdige Unterbringung garantiert werden. Die Lage der Flüchtlinge in der Türkei muss laufend beobachtet werden; die unternommenen Anstrengungen, sie zu verbessern, sind sehr zu begrüßen. Die Zahl der Flüchtlinge, die aus der Türkei in die EU umgesiedelt werden sollen, sollte deutlich erhöht werden und die Umsiedlung schneller erfolgen.
Die Überlegungen des Bundesinnenministers, in Tunesien oder Ägypten EU-Aufnahmezentren einzurichten, in denen Flüchtlinge Asyl beantragen können, wirft aus Sicht des SVR komplexe praktische und (menschen-)rechtliche Fragen auf, bei denen erheblicher Klärungsbedarf besteht. So ist unklar, welche rechtlichen Grundlagen für extraterritoriale Asylverfahren gelten würden. Auch wäre vorstellbar, dass durch solche EU-Aufnahmezentren ein starker Sogeffekt entsteht und es zu hohen Antragszahlen kommt. Die Folge wäre ein hoher personeller und finanzieller Aufwand bei der Bearbeitung der Anträge, sofern man völlig überbelegte Lager mit menschenunwürdigen Zuständen vermeiden will. Auch wenn Überlegungen zu EU-Aufnahmezentren damit derzeit kaum realisierbar erscheinen, ist aus Sicht des SVR eine engere Zusammenarbeit mit wichtigen Transitländern realpolitisch unerlässlich. „Nichts zu tun und wegzuschauen, ist keine Lösung“, sagte der SVR-Vorsitzende Bauer. Die EU stehe vor großen migrations- und asylpolitischen Herausforderungen, die sie ohne die Zusammenarbeit mit Herkunfts-, Transit- und Erstaufnahmestaaten nicht meistern könne. „Der Kompass bei einer Kooperation mit Staaten außerhalb der EU sind die Menschenrechte“, sagte Bauer. Eine einfache Lösung zeichne sich hier nicht ab. Klar ist nach Auffassung des SVR aber auch: Die Teilung der Verantwortung darf nicht bedeuten, diese einfach zu verlagern.
Nach dem zwischenzeitlichen Kollaps des EU-Asylsystems im Herbst 2015 entwickelte sich Deutschland zum mit Abstand wichtigsten Zielland für Flüchtlinge. Entsprechend herausgefordert waren und sind die integrationspolitischen Strukturen Deutschlands. Der zweite Teil des SVR-Jahresgutachtens widmet sich entsprechend der Frage nach erfolgten und noch offen gebliebenen ‚Umbaumaßnahmen‘ der deutschen Integrationsinfrastruktur. Detaillierter in den Blick genommen werden dabei die Bereiche Wohnen, Bildung, Arbeitsmarktintegration und Wertevermittlung. Aus den Ergebnissen leitet der SVR die zentrale Empfehlung ab: „Für die Integration von Flüchtlingen sollten grundsätzlich keine Sonderprogramme geschaffen werden, sondern die vorhandenen Regelstrukturen genutzt werden“, sagte der SVR-Vorsitzende Thomas Bauer. „Das bedeutet, dass Schüler so bald wie möglich in regulären Schulklassen unterrichtet werden sollten; ebenso sollten für die Berufsausbildung, die Nachqualifizierung und die Arbeitsmarktintegration die bewährten Instrumente der Arbeitsmarktpolitik genutzt werden.“ Sonderprogramme sollten die Ausnahme sein und sich auf unabwendbare besondere Bedarfe (z. B. im Bereich der Sprachförderung) beschränken. „Die Flüchtlingszuwanderung kann und sollte genutzt werden, um in den Regelstrukturen sinnvolle Reformen anzugehen. Dann haben alle etwas davon“, so Bauer.
Etwa die Hälfte der Flüchtlinge, die 2015 und 2016 einen Asylantrag in Deutschland gestellt haben, sind 25 Jahre oder jünger. Das ist mit erheblichen Herausforderungen für das Bildungssystem verbunden – angefangen von Kitas, Schulen, der beruflichen Bildung bis zu Universitäten. So gibt es zum Teil noch zu große Zeitverzögerungen, bis Flüchtlingskinder in eine Kita oder Schule gehen oder Jugendliche eine Ausbildung beginnen können. In einigen Bundesländern führt der mehrmonatige Verbleib in Erstaufnahmeeinrichtungen dazu, dass sich die Einschulung länger hinauszögert als dies verbindliche internationale Abkommen vorsehen. Der SVR drängt daher darauf, dass geflüchtete Kinder und Jugendliche möglichst schnell, spätestens jedoch nach drei Monaten in die Schule gehen können. Dieser Zeitraum ist auch in der EU-Aufnahmerichtlinie verbindlich vorgeschrieben. Eine Verstärkung der jetzt bereits bestehenden Segregationstendenzen im Schulsystem muss dringend vermieden werden, damit echte Teilhabechancen für Flüchtlingskinder wie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler bestehen. Handlungsbedarf sieht der SVR auch bei der Berufsausbildung für junge Flüchtlinge: Während das Ausbildungssystem auf der rechtlichen Ebene in beachtlichem Maß für Flüchtlinge geöffnet wurde, werden die bestehenden Möglichkeiten in der Praxis bislang nur unzureichend genutzt. Um jungen Flüchtlingen den Einstieg in die Berufsausbildung zu erleichtern, schlägt der SVR vor, die berufliche Ausbildung – zumindest versuchsweise – in eine Basisausbildung und eine Spezialisierungsphase zu gliedern. Von einer solchen Modularisierung könnten auch junge Langzeitarbeitslose profitieren. Im Anschluss an die Basisausbildung müsste in jedem Fall die Möglichkeit bestehen ‚draufzusatteln‘. Wenn dies gewährleistet wird und das System ‚nach oben‘ offen ist, kann vermieden werden, dass eine Zwei-Klassen-Berufsausbildung entsteht. Zudem könnten andere flexible Ausbildungsmodelle wie eine Teilzeitausbildung von Flüchtlingen genutzt werden, um eine Ausbildung und die Möglichkeit, Geld zuverdienen, miteinander zu verbinden. „Die finanziellen Mittel, die wir für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen aufwenden, sollten wir als eine Investition betrachten“, sagte der SVR-Vorsitzende Bauer. Wenn aus Flüchtlingen mittelfristig Steuerzahler werden, zahle sich das aus. „Wenn wir hingegen nicht genug investieren, könnten die nach Deutschland geflohenen Kinder und Jugendlichen in wenigen Jahren zu den Verlierern gehören, mit allen individuellen und gesellschaftlichen Folgen“, warnte Bauer.
Um Flüchtlinge bei der Suche nach einem Arbeitsplatz oder bei der (Nach-)Qualifizierung zu unterstützen, setzt der SVR auf die bewährten Instrumente der Arbeitsmarktpolitik. Sondermaßnahmen wie das neue Programm „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ (FIM) sieht der SVR skeptisch. Eine intensive und passgenaue Sprachförderung hingegen ist unabdingbar und Voraussetzung für einen erfolgreichen Arbeitsmarkteinstieg. Im Übrigen warnt der SVR davor, die Auswirkungen der Flüchtlingszuwanderung auf den Arbeitsmarkt (im Positiven wie im Negativen) zu überschätzen. „Der Zuzug von Flüchtlingen wird das Problem des Fachkräftemangels nicht lösen“, sagte Bauer. Aber auch die Befürchtungen, dass die Flüchtlingszuwanderung zu einem nennenswerten Lohndruck oder zu einer Verdrängung einheimischer Arbeitskräfte führen könnte, seien nicht berechtigt.
Der Stellenwert der Wertevermittlung ist nicht zuletzt nach den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht 2015/2016 stark gestiegen. So wurde in den Integrationskursen die Stundenzahl für die Vermittlung von gesellschaftlich-kulturellen Werten und politisch-demokratischen Grundwerten von 60 auf 100 Stunden aufgestockt. „Die theoretische Vermittlung von Werten ist wichtig, sollte aber auch nicht überschätzt werden. In einem zweiten Schritt kommt es darauf an, dass die Werte auch übernommen werden. Dies setzt voraus, dass die Menschen diese Werte im Alltag erleben und praktisch erfahren können“, sagte Bauer. Eine gelingende Integration erfordere aber auch eine entsprechende Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft. Hier gelte es deutlich zu machen, dass die Aufnahme von Menschen in Not ein Gebot der Menschlichkeit ist und den Werten unserer Gesellschaft entspreche.
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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration geht auf eine Initiative der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung zurück. Ihr gehören sieben Stiftungen an. Neben der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung sind dies: Bertelsmann Stiftung, Freudenberg Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und Vodafone Stiftung Deutschland. Der Sachverständigenrat ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Expertengremium, das zu integrations- und migrationspolitischen Themen Stellung bezieht und handlungsorientierte Politikberatung anbietet. Die Ergebnisse seiner Arbeit werden in einem Jahresgutachten veröffentlicht.
Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Thomas K. Bauer (Vorsitzender), Prof. Dr. Hacı Halil Uslucan (Stellvertretender Vorsitzender), Prof. Dr. Gianni D’Amato, Prof. Dr. Petra Bendel, Prof. Dr. Wilfried Bos, Prof. Dr. Claudia Diehl, Prof. Dr. Viola B. Georgi (seit 2017), Prof. Dr. Christian Joppke, Prof. Dr. Daniel Thym und Prof. Dr. Heinz Faßmann (bis 2017).

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