Pressemitteilung
Berlin, 28.04.2015

Das sechste SVR-Jahresgutachten zieht einen internationalen Vergleich zwischen der Migrations- und Integrationspolitik Deutschlands und ausgewählten EU-Staaten sowie klassischen Einwanderungsländern wie Kanada und den USA. Deutschland schneidet besser ab als der aktuelle öffentliche Diskurs erwarten lässt. In seinen Handlungsempfehlungen schlägt der SVR vor, ein neues Verfahren für die EU Flüchtlingspolitik zu prüfen: Flüchtlinge sollen nach der Anerkennung ihres Asylantrags in ein EU-Land ihrer Wahl weiterwandern können, insbesondere zum Zweck der Arbeitsuche; das Prinzip der grundsätzlichen Zuständigkeit des Ersteinreisestaates (Dublin-Verordnung) für das Asylverfahren wird erhalten und gestärkt.
„Deutschland reiht sich im internationalen Vergleich in die Riege fortschrittlicher Einwanderungsländer ein“, sagte Prof. Dr. Christine Langenfeld, Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) bei der Vorstellung des SVR-Jahresgutachtens 2015 in Berlin. „Das Ergebnis entspricht nicht der Selbstwahrnehmung Deutschlands im öffentlichen Diskurs. Wir sind besser als wir glauben“, sagte Langenfeld. Deutschland habe politisch-konzeptionell in vielen Bereichen des Migrationsmanagements und der Integrationsförderung in den vergangenen Jahren deutlich aufgeholt und könne sich im Vergleich mit klassischen Einwanderungsländern sehen lassen. „In der politischen Debatte in Deutschland wird dies häufig übersehen“, sagte Langenfeld. „Das gute Abschneiden Deutschlands bedeutet aber nicht, dass wir uns zurücklehnen können. Es fehlt nach wie vor eine migrationspolitische Gesamtstrategie. Dies müsste auch die Identifikation künftiger Herkunftsländer von Neuzuwanderern umfassen, in denen sich Deutschland als Einwanderungsland positioniert. Zudem gilt es, das Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland zu festigen.“
Das Lernen von Anderen steht im Mittelpunkt des SVR-Jahresgutachtens 2015. Das Thema wurde aufgegriffen, weil im politischen Diskurs häufig die Forderung auftaucht, es so zu machen wie Kanada oder Schweden oder die USA. Und gleichzeitig herrscht die Meinung vor, Deutschland sei ein migrationspolitischer Nachzügler. Diese Behauptungen zeugen allerdings von wenig Sachkenntnis. Das Jahresgutachten vergleicht daher sehr systematisch die Migrations- und Integrationspolitik Deutschlands vor allem mit Ländern, die in der öffentlichen Wahrnehmung als besonders erfolgreich und somit als mögliche migrations- und integrationspolitische Vorbilder gelten (Kanada, USA und Schweden sowie weitere europäische Länder). Der Ländervergleich zeigt in drei zentralen Bereichen der deutschen Migrations- und Integrationspolitik, bei der Arbeitsmigration, dem Staatsbürgerschaftsrecht und der Asylpolitik, dass Deutschland von erfolgreichen Einwanderungsländern nur bedingt lernen kann: „Deutschland kann aus drei Gründen nicht einfach ‚Blaupausen‘ nutzen, die in anderen Ländern entwickelt wurden“, sagte Langenfeld. Zum einen stellen länderspezifisch unterschiedliche politische, ökonomische, soziale oder geografische Rahmenbedingungen die im politischen und medialen Diskurs beliebte Empfehlung eines einfachen Imports einer – in einem anderen Land (anscheinend) bewährten– politischen Maßnahme in Frage. Zum anderen ist Deutschland mittlerweile in Bereichen wie der Arbeitsmigrationspolitik selbst zu einem Vorreiter einer modernen Migrationspolitik geworden. Schließlich gibt es eine Tendenz zur Konvergenz – mit der Folge, dass sich die Politik zahlreicher Einwanderungsländer einander annähert und immer mehr ähnelt.
Gerade Kanada und Deutschland haben sich beispielsweise in der Arbeitsmigrationspolitik stark aufeinander zubewegt: Kanada hat sich von seinem rein humankapitalorientierten, d. h. ausschließlich an der Qualifikation der Bewerberorientierten Punktesystem verabschiedet (ein Arbeitsvertrag wurde zum entscheidenden Kriterium der Zuwanderung), während Deutschland sein ausschließliches Prinzip ‚Keine Zuwanderung ohne Arbeitsvertrag‘ aufgegeben hat. Drittstaatsangehörige mit Hochschulabschluss erhalten seit 2012 ein Visum zur Arbeitsuche, ohne dass ein Arbeitsvertrag vorliegen muss (§ 18c AufenthG). Eine ähnliche Regelung ist für nicht akademische Fachkräfte geplant (§ 17a des Gesetzentwurfs zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung). Dies verkennen Forderungen nach der Einführung eines Punktesystems à la Kanada. „Die im Gutachten herausgearbeiteten Möglichkeiten und Grenzen des Lernens voneinander“, so Langenfeld, „können für die Politik dennoch hilfreich sein, als sie deutlich machen, unter welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen welche politischen Handlungsspielräumebestehen.“
„Eine erfolgreiche Migrations- und Integrationspolitik umfasst aber weit mehr als nur liberale Gesetze“, sagte Langenfeld. „Deutschland muss sich international, aber auch nach innen noch sehr viel stärker und glaubwürdig als Einwanderungsland definieren und positionieren. Es ist eine zentrale Aufgabe der Politik, in der Bevölkerung ein breit getragenes Selbstverständnis von Deutschland als Einwanderungsland zu fördern. Brennende Asylheime sind ein verheerendes Signal.“ Politik müsse daher in diesem stark von Emotionen geprägten Politikfeld Entscheidungen und Hintergründe besser erklären und deutlich machen, dass Zuwanderung nicht zuletzt aufgrund des demografisch bedingten Fachkräftemangels Chance und Notwendigkeit für Deutschland sei. Politiker müssen stärker als bisher hinausgehen, die Bürgernähe und das Gespräch suchen. Ein modernes Einwanderungsland braucht ein klares Selbstverständnis und eindeutige Regeln für das Kommen und das Zusammenleben. In Deutschland sind das die Werte des Grundgesetzes, deren Einhaltung von allen einzufordern ist. Das vom SVR bereits mehrmals angemahnte migrationspolitische Gesamtkonzept wäre auch für den Dialog mit den Bürgern ausgesprochen hilfreich.
Schnell wirkende Ergänzungen zum individuellen Asylverfahren und strukturelle Reformen am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem: SVR fordert Paketlösung
Die strukturellen Probleme des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) waren bereits lange offensichtlich, noch bevor die europäische Flüchtlings- und Asylpolitik durch die Massenflucht aus Syrien wieder verstärkt in das Licht der Öffentlichkeit gerückt ist. Um die europäische Asylpolitik langfristig zukunftsfest zu machen, schlägt der SVR eine strukturelle Neuaufstellung des GEAS vor, in der zum einen an der Idee der Zuständigkeit des Ersteinreisestaates (Dublin-Prinzip) festgehalten, darüber hinaus aber ‚Dublin‘ mit dem Prinzip der freien Wahl des EU-Zielstaates nach erfolgreichem Abschlussdes Asylverfahrens verbunden wird: Danach ist der Staat der Ersteinreise weiterhin für die Aufnahme, das Asylverfahren und die Rückführung von nicht anerkannten Flüchtlingen zuständig. Länder, die aufgrund hoher Zuzugszahlen von Asylbewerbern objektiv an Kapazitätsgrenzen stoßen, erhalten finanzielle und logistische Hilfen. Die Ersteinreisestaaten ihrerseits sind verpflichtet, die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) festgelegten Standards bei der Unterbringung und der Durchführung der Asylverfahren strikt einzuhalten. Wenn das gelingt und die Erstaufnahmestaaten im Süden Europas eine ähnliche Anerkennungspraxis zeigen wie die anderen EU-Staaten, können in einem weiteren Schritt Freizügigkeitsrechte für anerkannte Flüchtlinge innerhalb der EU eingeführt werden. „Die entscheidende Neuerung des SVR-Modells besteht darin, dass anerkannte Flüchtlinge nach einem positiven Abschluss ihres Asylverfahrens, für das bereits heute gemeinsame europäische Regelungen gelten, in ein EU-Land ihrer Wahl weiterwandern können, in dem sie für sich eine wirtschaftliche Perspektive sehen oder in dem Familienangehörige leben“, erläuterte Langenfeld. „Das stärkt die Rechte anerkannter Flüchtlinge, die damit erstmals EU-weite Freizügigkeitsrechte erhalten. Damit bewegen wir uns auf ein europäisches Bleiberecht für anerkannte Flüchtlinge zu“, sagte Langenfeld. „Dieses neue Verfahren wäre auch ein klares Signal europäischer Solidarität und Lastenteilung bei der Aufnahme von Flüchtlingen.“
Das vorgeschlagene Verfahren ist zudem eine stringente Weiterentwicklung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das über die einheitlichen Verfahrens- und Schutzstandards hinaus auch Freizügigkeitsrechte umfassen würde. Der Vorteil einer solchen Reform für die Mitgliedsländer liegt auf der Hand: Die Ersteinreisestaaten erhalten finanzielle und logistische Unterstützung für die Aufnahme der Flüchtlinge sowie die Perspektive, dass sie nicht mehr allein für alle anerkannten Flüchtlinge zuständig bleiben. Im Gegenzug müssen die nordeuropäischen Staaten nicht länger eine große Zahl von Asylverfahren von Flüchtlingen bearbeiten, die entgegen der Regeln im Erstaufnahmeland nicht registriert wurden. Zur Begrenzung von möglichen Pull-Effekten aufgrund der unterschiedlichen Lebensverhältnisse innerhalb der EU wäre die Etablierung entsprechender „Vorsorge“-Mechanismen zwischen den EU-Staaten denkbar. „Für Deutschland bedeutet der Vorschlag aller Voraussicht nach, dass weniger Asylbewerber einreisen und somit weniger Asylanträge zu bearbeiten sind, aber mehr anerkannte Flüchtlinge einreisen werden“, sagte Langenfeld. Da das Asylverfahren bereits positiv abgeschlossen sei, hätten diese die Möglichkeit, sich eine Arbeit zu suchen und selbst für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Das werde die Akzeptanz für die Aufnahme von Flüchtlingen in der Bevölkerung stärken. „Integrationsmaßnahmen wie Sprachkurse könnten sofort greifen und die Arbeitsuche könnte durch die bereits vorhandene Infrastruktur, d. h. Arbeitsagenturen und Beratungsstellen für Flüchtlinge, aber auch die Wirtschaft, unterstützt werden“, sagte Langenfeld.
Asyl- und flüchtlingspolitische Strukturreformen wie der vom SVR vorgeschlagene Ausbau des Dublin-Prinzips können und müssen die europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik langfristig auf ein sichereres Fundament stellen. Angesichts der dramatischen Ereignisse in Syrien und anderen vor der ‚Haustüre Europas‘ gelegenen Krisenherden stehen Europa und vor allem die EU als Wertegemeinschaft derzeit allerdings vor akuten und bis vor kurzem hinsichtlich ihrer Intensität und Dramatik noch kaum vorstellbaren flüchtlings- und asylpolitischen Herausforderungen. Erforderlich ist daher ein asyl- und flüchtlingspolitisches „Soforthilfe-Programm“, in dessen Rahmen vor allem kollektive Aufnahmeverfahren zum Einsatz kommen müssen, die das individuelle Asyl ergänzen und an dem alle EU-Staaten nach dem Grundsatz der Lastenteilung teilnehmen. Auf europäischer Ebene ist mit der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz von Flüchtlingen bereits seit vielen Jahren ein geeignetes Instrument etabliert, das aktuell vor allem syrischen Flüchtlingen eine schnelle und unbürokratische Alternative zum individuellen Asylverfahren bieten könnte. Die Aktivierung der Richtlinie ist allerdings bislang an mangelnder Einigkeit im EU-Ministerrat gescheitert.
Diese Soforthilfe muss einhergehen mit einem stärkeren Engagement der EU bei der Bekämpfung der Fluchtursachen in den Herkunftsländern und dem Ausbau legaler Zuzugsmöglichkeiten für Arbeitsmigranten. Dabei sollten auch sog. Mobilitätspartnerschaften mit geeigneten Ländern ausgebaut werden. Dies könnte vielen Menschen den gefährlichen Weg über das Mittelmeer ersparen. Über die bereits bestehenden legalen Zuwanderungsmöglichkeiten sollte verstärkt informiert werden, damit diejenigen, die zur Arbeitsuche nach Europa kommen wollen, nicht den Weg des Asylverfahrens beschreiten.
Für eine aktive Einbürgerungspolitik und ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht
Ein modernes Einwanderungsland benötigt eine moderne Staatsbürgerschaftspolitik. Der SVR empfiehlt daher ein staatsangehörigkeitspolitisches Reformpaket. Deutschland sollte erstens eine aktive Einbürgerungspolitik praktizieren: Aus Einwanderern sollten Bürger mit allen Rechten und Pflichten werden können, insbesondere dem Wahlrecht. Die für die Einbürgerung zuständigen Bundesländer sollten einbürgerungsberechtigte Personen gezielt ansprechen und aktiv für die Einbürgerung werben. Zweitens sollte besonders gut integrierten Einwanderern eine ‚Turbo-Einbürgerung‘ ermöglicht werden. Deutschland muss sich drittens auch für ein modernes Staatsbürgerschaftskonzept stark machen, das der Wirklichkeit einer Migrationsgesellschaft gerecht wird.
Ein solches Modell ist der ‚Doppelpass mit Generationenschnitt‘. Das SVR-Jahresgutachten 2015 zeigt, dass dieses Modell gegenüber den eigenen, im Ausland lebenden Staatsbürgern nicht nur von Deutschland, sondern beispielsweise auch von Kanada und Schweden praktiziert wird. Dieses Modell empfiehlt der SVR auch für den Umgang mit Zuwanderern und ihren Nachkommen in Deutschland: Die doppelte oder mehrfache Staatsangehörigkeit wird für die in Deutschland geborenen Kinder von Einwanderern und bei Einbürgerung akzeptiert. Zugleich wird ein Mechanismus etabliert, der eine unbegrenzte Weitergabe der Staatsbürgerschaft über das ius sanguinis (Abstammungsprinzip) verhindert. Damit soll vermieden werden, dass über Generationen Mehrfachstaatsangehörigkeiten angehäuft werden, obwohl zum Herkunftsland der Vorfahren keine Beziehung mehr besteht. Da der ‚Doppelpass mit Generationenschnitt‘ nur in Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern umgesetzt werden kann, empfiehlt der SVR der Bundesregierung entsprechende Verhandlungen, z. B. mit der Türkei als einem der Hauptherkunftsländer über die Begrenzung der Weitergabe der türkischen Staatsangehörigkeit an seit Generationen in Deutschland lebende türkische Staatsbürger. Darüber hinaus empfiehlt der SVR eine politische Initiative in internationalen Gremien, um das Modell des ‚Doppelpasses mit Generationenschnitt‘ als Standard bzw. best practice durchzusetzen.
Das SVR-Jahresgutachten „Unter Einwanderungsländern: Deutschland im internationalen Vergleich“ kann auf www.svr-migration.de heruntergeladen werden.
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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration geht auf eine Initiative der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung zurück. Ihr gehören sieben Stiftungen an. Neben der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung sind dies: Bertelsmann Stiftung, Freudenberg Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und Vodafone Stiftung Deutschland. Der Sachverständigenrat ist ein unabhängiges und gemeinnütziges Beobachtungs-, Bewertungs- und Beratungsgremium, das zu integrations- und migrationspolitischen Themen Stellung bezieht und handlungsorientierte Politikberatung anbietet. Die Ergebnisse seiner Arbeit werden in einem Jahresgutachten veröffentlicht.
Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Christine Langenfeld (Vorsitzende), Prof. Dr. Ludger Pries (Stellvertretender Vorsitzender) sowie Prof. Dr. Gianni D’Amato, Prof. Dr. Thomas K. Bauer, Prof. Dr. Wilfried Bos, Prof. Dr. Claudia Diehl (ab 2015), Prof. Dr. Heinz Faßmann, Prof. Dr. Christian Joppke (ab2015), Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu (bis 2015), Prof. Dr. Ursula Neumann (bis 2015) und Prof. Dr. Hacı Halil Uslucan.
Weitere Informationen unter: www.svr-migration.de

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