Pressemitteilung
Essen, 16.07.2015

Rat für Kulturelle Bildung legt Allensbach-Studie vor / Hohe Unterschiede zwischen Schulformen
Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern haben bis zum Ende der Pflichtschulzeit im Schnitt erheblich weniger Zugänge zu Kultureller Bildung und ein deutlich niedrigeres Kulturinteresse als Akademikerkinder. Das ist das zentrale Ergebnis einer bundesweiten repräsentativen Befragung mit dem Titel „Jugend/Kunst/Erfahrung. Horizont 2015“ unter Schülerinnen und Schülern aus 9. und 10. Klassen, die das Institut für Demoskopie Allensbach (IfD) auf Initiative des Rates für Kulturelle Bildung (Essen) durchgeführt hat. Demnach hängen kulturelles Interesse, der Wunsch nach Wissen über Kultur und kulturelle Aktivitäten bei den Heranwachsenden signifikant vom Bildungsgrad der Eltern ab: 74 Prozent der Kinder aus Akademikerhaushalten (mindestens ein Elternteil mit Hochschulabschluss) geben die Eltern als entscheidende Impulsgeber ihres Kulturinteresses an, hingegen nur 33 Prozent aus Elternhäusern mit höchstens mittlerem Schulabschluss. Von Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen Elternhäusern gehen zudem dreieinhalb Mal so viele auf Sekundarschulen, die nicht Gymnasium oder Gesamtschule sind. Dort ist das kulturelle Angebot dann deutlich geringer als an Gymnasien.
Besorgniserregende Unterschiede zwischen Gymnasien und anderen Schulformen
Um bis zu 40 Prozentpunkte höher ist die Wahrscheinlichkeit an Gymnasien gegenüber diesen Sekundarschulen, dass etwa Literatur, klassische Musik oder Theater Teil des Unterrichts sind. Auch führen Gymnasien ihre Schülerinnen und Schüler deutlich häufiger in außerschulische Kulturveranstaltungen. Und von 14 im Interview abgefragten kulturellen Nachmittagsangeboten gibt es nach Kenntnis der Befragten im Schnitt 5,9 an den Gymnasien, indes nur 3,8 an Sekundarschulen. Zudem fällt der Kunstunterricht bei 33 Prozent aller befragten Schülerinnen und Schüler ihrer Wahrnehmung nach mehr als selten, zum Teil sogar häufig aus. Hinzu kommen 17 Prozent, die derzeit überhaupt keinen Kunstunterricht erhalten. Die Hälfte der Schülerinnen und Schüler der 9. und 10. Klassen hat also keinen regelmäßigen Kunstunterricht. Ähnliches gilt für den Musikunterricht (49 Prozent). Mit Blick auf die Frage der Chancengerechtigkeit ist auch hier ein Gefälle zwischen den Schulformen festzustellen: An den Sekundarschulen haben 54 Prozent keinen regelmäßigen Kunstunterricht, an den Gymnasien aber ’nur‘ 43 Prozent; für die Musik lauten die Werte 55 Prozent (Sekundarschulen) versus 41 Prozent (Gymnasien).
Nach PISA-Schock kein Aufbruch für künstlerische Fächer
Prof. Dr. Eckart Liebau, Vorsitzender des Rates für Kulturelle Bildung, zu den Befunden: „Wir haben es mit großen Unterschieden zwischen den Schulformen zu tun, mit kulturellen Bildungsverläufen,die kaum durchbrochen werden können, mit Schulen, die ein Drittel der Kinder gar nicht für Kultur gewinnen, und wir finden in einem Ausmaß tradierte Rollenbilder, wie wir es nicht mehr erwartet hatten. Dass Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern den künstlerischen Vorsprung ihrer Altersgenossen in der Schule aufholen könnten, lassen die Daten nicht erkennen. Der Schwerpunkt der Schulentwicklung liegt bisher nicht in diesen Fächern, eher im Gegenteil. Der bildungspolitische Aufbruch nach dem PISA-Schock hat den künstlerischen Fächern und Angeboten in den Schulen eher geschadet. Wir fordern deshalb mit Nachdruck zum bildungs- und kulturpolitischen Handeln auf: Es darf nicht dabei bleiben, dass im Schulwesen ausgerechnet den benachteiligten Kindern und Jugendlichen das quantitativ schwächste Angebot Kultureller Bildung gemacht wird. Hier ist ein Ausbau vor allem in den Sekundarschulen dringend erforderlich.“
Kulturinteressierte begeistern sich auch für viele andere Fächer
Werner Süßlin, IfD-Projektleiter, zum Zusammenhang zwischen Kulturinteresse und allgemeinem Bildungsinteresse der Schülerinnen und Schüler: „Wie umfassend ein kulturinteressiertes Klima in Familien auch mit dem allgemeinen Bildungsinteresse der Kinder korrespondiert, zeigt die Frage nach Lieblingsfächern in den 9. und 10. Klassen: Je höher das Kulturinteresse der Eltern aus Sicht der Schülerinnen und Schüler ist, umso häufiger zählen sie neben den künstlerischen Fächern auch viele andere zu ihren Lieblingsfächern: Fremdsprachen +40 Prozentpunkte, Deutsch +36, Geschichte +23, Biologie und Sozialkunde jeweils +18. Auch Chemie, Mathematik und Physik geben sie im Vergleich zu Jugendlichen aus nicht kulturinteressierten Elternhäusern häufiger als Lieblingsfach an, die Abstände sind hier aber nicht so stark (+8; +7; +4).“
Höherer Stellenwert von Kultur bei Mädchen
69 Prozent der Mädchen halten Grundwissen über Kultur für wichtig, hingegen nur 48 Prozent der Jungen. Diese größere Wertschätzung schlägt sich im eigenen Engagement nieder: Gehen Mädchen außerhalb der Schule im Schnitt drei kulturellen Aktivitäten wie Musizieren, Malen, Tanzen oder Theaterspielen nach, sind es bei Jungen zwei. Zudem werden tradierte Rollenbilder sichtbar: 72 Prozent der Mädchen interessieren sich für Mode, indes nur 24 Prozent der Jungen. 67 Prozent der Jungen präferieren Computer-/Videospiele, lediglich 14 Prozent der Mädchen; 44 Prozent der Schüler sind Technik zugeneigt, aber nur sieben Prozent der Schülerinnen. Prof. Dr. Eckart Liebau dazu: „So schön das höhere Kulturinteresse der Mädchen ist, es darf nicht dabei bleiben, dass die unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Angebote deutlicher weniger Jungen erreichen. Hier geht es um die Verbesserung und Passgenauigkeit der inhaltlichen Qualität.“
Über die Umfrage
„Jugend/Kunst/Erfahrung. Horizont 2015“ ist eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD), die auf der Initiative und Konzeption des Beratungsgremiums Rat für Kulturelle Bildung basiert. Beauftragt und getragen wurde die Studie durch den Stiftungsverbund Rat für Kulturelle Bildung e.V. und gefördert durch die Stiftung Mercator. Die Studie hat das Kulturverständnis und die Kulturinteressen von Schülerinnen und Schülern und ihre Begegnungsmöglichkeiten mit den Künsten zum Gegenstand. Die Repräsentativbefragung wurde Ende März 2015 vom IfD in Form mündlich-persönlicher Interviews durchgeführt. Die Stichprobe umfasste 532 Schülerinnen und Schüler der 9.und 10. Klasse allgemeinbildender Schulen bundesweit. Die strukturelle Zusammensetzung der Stichprobe entspricht nach Geschlecht, Schulart und Klassenstufen den Daten der Grundgesamtheitaus der amtlichen Statistik. Diese Übereinstimmung ist Voraussetzung dafür, dass die Ergebnisse verallgemeinert werden dürfen. Ergänzt wurde die Studie um repräsentative Ergebnisse einer parallelen IfD-Bevölkerungsumfrage.
Über den Rat für Kulturelle Bildung
Der Rat für Kulturelle Bildung ist ein unabhängiges Beratungsgremium, das die Lage und Qualität Kultureller Bildung in Deutschland analysiert und auf der Basis von Denkschriften und Studien Empfehlungen an Politik, Wissenschaft und Praxis ausspricht. Ihm gehören 13 Mitglieder an, die inverschiedenen Bereichen der Kulturellen Bildung verankert sind: Tanz- und Theaterpädagogik, Musik- und Literaturvermittlung, Bildungsforschung, Erziehungswissenschaften, Pädagogik, Kulturwissenschaften, Medien, Kulturpolitik, Kulturelle Bildung, bildende Kunst und Theater. Der Rat für Kulturelle Bildung ist eine Initiative von Stiftung Mercator, ALTANA Kulturstiftung, Bertelsmann Stiftung, Deutsche Bank Stiftung, PwC-Stiftung und der Siemens Stiftung.
Weitere Informationen finden Sie unter info@rat-kulturelle-bildung.de

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