2006 vertrat der damalige Bundesinnenminister und heutige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble vehement eine These, die jahrzehntelang die deutsche Innenpolitik geprägt hatte. „Wir waren nie ein Einwanderungsland und wir sind’s bis heute nicht“, sagte er auf einer hitzigen Diskussionsveranstaltung des Caritasverbands. Ob Schäuble das noch immer so sieht? Mittlerweile hat ein Drittel der Schülerinnen und Schüler an den Schulen in Deutschland einen Migrationshintergrund, wie die Statistikbehörde Destatis 2015 meldete. In der Gesamtbevölkerung beträgt der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund fast ein Viertel – Tendenz steigend.
„Deutschland ist selbstverständlich ein Einwanderungsland“, sagt Prof. Dr. Thomas K. Bauer. Das bestreitet auch die Bundesregierung längst nicht mehr. Das Gremium, dem Bauer vorsitzt – der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) – hat seinen Teil dazu beigetragen, dass das Thema Integrationspolitik überhaupt auf die Tagesordnung kam. „Das war keineswegs immer so“, erklärt Bauer. Solange man nur von „Gastarbeitern“ sprach und nicht davon ausging, dass die Menschen bleiben, musste man sich auch nicht um die Folgen kümmern. So mangelte es lange an aktiver Steuerung und Gestaltung. Heute wird das in großen Teilen der Politik anders gesehen. Sachlicher und ideologiefreier ist die Debatte deshalb aber noch lange nicht in allen Aspekten – im Gegenteil: „Seit dem Herbst 2015 hat die Debatte sich wieder verschärft“, sagt Thomas K. Bauer. Der Höhepunkt der Flüchtlingskrise markiert den Zeitpunkt, ab dem die Migrationspolitik zum Streitthema Nummer eins in Deutschland avanciert ist.
„Seitdem geht vieles durcheinander“, führt Bauer aus. „Und vieles fällt vom Tisch herunter, was wir gerne darauf hätten.“ Als Stichworte nennt der SVR-Vorsitzende beispielsweise Zuwanderung aus EU-Ländern, Fachkräftemangel, demografischer Wandel. „Darüber redet kaum noch jemand“, beklagt der SVR-Vorsitzende. Aber das Interesse der politischen Korrespondentinnen und Korrespondenten an der Präsentation des Jahresgutachtens, mit dem der Sachverständigenrat in jedem Frühjahr vor die Öffentlichkeit tritt, ist groß.
Neun Professorinnen und Professoren sitzen dann auf dem Podium, zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der Hauptstadtmedien vor sich. Fernsehteams filmen, Fotografinnen und Fotografen drücken auf den Auslöser, wenn Bauer zu Beginn das rund 200 Seiten starke Gutachten zur Ansicht hochhält. Viele Mikrofone sind dann auf ihn gerichtet. Er stellt die zentralen Ergebnisse der Publikation vor und beantwortet die Fragen der Pressevertreterinnen und -vertreter, flankiert von den Sachverständigen, die zu ihren Schwerpunktthemen antworten. Der Fernsehsender Phoenix überträgt live. Die Reporterinnen und Reporter schreiben konzentriert mit. Das Jahresgutachten wird im Radio und im Fernsehen am gleichen Tag ein wichtiges Thema sein – und am nächsten Tag die großen Tageszeitungen ebenso wie die Regional- und Lokalzeitungen zwischen Flensburg und Freiburg füllen.
Die Themen prägen die Debatte bundesweit. Ob der Diskussion um die doppelte Staatsangehörigkeit oder bei der Debatte zum anstehenden Einwanderungsgesetz – die Vorschläge des SVR werden immer wieder aufgegriffen und diskutiert. Das Jahresgutachten 2017 etwa beschäftigte sich mit „Chancen in der Krise: Zur Zukunft der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa“, aktuell geht es um die Fragestellung: „Steuern, was zu steuern ist: Was können Einwanderungs- und Integrationsgesetze leisten?“ Unterstützt wird die Arbeit der neun Sachverständigen von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Geschäftsstelle. Hinzu kommt der Forschungsbereich, der eigenständige, anwendungsorientierte Forschungsprojekte zu Integration und Migration durchführt und die Arbeit des SVR ergänzt.
„Das Hauptziel des Sachverständigenrats ist es, sachliche Perspektiven in die emotionalen Diskussionen zu bekommen“, erklärt Bauer. „Wir versuchen, ausgewogen zu sein – und pragmatische Vorschläge vorzulegen.“ Dass sich unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen – von der Politikwissenschaft, über Soziologie, Psychologie, Geschichte bis hin zur Rechtswissenschaft – dem Thema Integration aus unterschiedlichen Perspektiven nähern, ist dabei ausdrücklich erwünscht, wie die Geschäftsführerin des SVR, Dr. Cornelia Schu, feststellt. „Wir haben eine große Bandbreite an thematischen Zugängen“, sagt sie. Durch die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger von der Universität Wien und den Soziologen Prof. Dr. Christian Joppke, der in Bern lehrt, würden auch Erfahrungen aus Österreich und der Schweiz eingebracht.
Bauer selbst ist Ökonom, Professor für Empirische Wirtschaftsforschung an der Ruhr-Universität Bochum. Er bringt vor allem wirtschaftliche Fragestellungen in den Sachverständigenrat ein: Wie integrieren sich Migrantinnen und Migranten in den Arbeitsmarkt? Wie kann Deutschland im weltweiten Wettbewerb um Fachkräfte bestehen – trotz seines Standortnachteils, der international kaum verbreiteten deutschen Sprache? Womit lassen sich ökonomische Fluchtursachen bekämpfen? Entsprechende Aspekte fließen in die Jahresgutachten ein. Die Sachverständigen sind in ihrer Arbeit ausschließlich der Wissenschaft verpflichtet, was durch das Engagement sieben großer deutscher Stiftungen seit fast zehn Jahren gesichert wird. Allein die Mitglieder des SVR legen das jeweilige Thema für das Jahresgutachten fest – stets nach engagierter und leidenschaftlicher Diskussion, wie Cornelia Schu betont. Sie sagt: „In der Sache wird schon mal hart gerungen, der Ton ist aber stets respektvoll und vertrauensvoll.“ Auch das ist also vorbildlich.
Wissenschaftliche Perspektiven in die Debatte um die Zukunftsthemen Migration und Integration einbringen, um die gesellschaftliche Debatte zu versachlichen und der Politik Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) ist ein unabhängiges, interdisziplinär besetztes Expertengremium, das die Politik handlungsorientiert berät und der Öffentlichkeit sachliche Informationen zur Verfügung stellt. Die neun Sachverständigen legen jährlich ein Jahresgutachten vor und beziehen zu aktuellen Entwicklungen in den Bereichen Integration und Migration Stellung. Der Forschungsbereich beim Sachverständigenrat führt eigenständige, anwendungsorientierte Forschungsprojekte in den Themenbereichen Integration und Migration durch.
Was sind die Ziele?
Der Sachverständigenrat analysiert wissenschaftlich fundiert und methodensicher; aktuelle Entwicklungen und Problemstellungen bewertet er politisch neutral. Damit leistet der SVR einen Beitrag zur Sachorientierung politischer Debatten, stellt der Öffentlichkeit fundierte Informationen zur Verfügung und liefert Handlungsoptionen für politische Entscheiderinnen und Entscheidern in Bund, Ländern, Kommunen und für Akteurinnen und Akteure der Zivilgesellschaft.
Wie sieht die Umsetzung aus?
Der SVR legt jährlich ein Gutachten zu Integration und Migration vor und bezieht Stellung zu aktuellen Debatten. Mit dem Jahresgutachten wird ein Integrationsbarometer erhoben, das das Integrationsklima in Deutschland misst. Dazu werden Personen mit und ohne Migrationshintergrund befragt, sodass die Einschätzungen und Bewertungen beider Seiten der Einwanderungsgesellschaft sichtbar werden. Der SVR-Forschungsbereich ergänzt die Arbeit des Sachverständigenrats. Er betreibt eigenständige, anwendungsorientierte Forschung im Bereich Integration und Migration. Die Forschungsergebnisse werden in Form von Publikationen, Vorträgen und Hintergrundgesprächen mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik, Zivilgesellschaft sowie der allgemeinen Öffentlichkeit geteilt.
Wie ist das Projekt organisiert?
Für den Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) haben sich sieben deutsche Stiftungen zusammengeschlossen, um sich für die zentralen Themen Integration und Migration stark zu machen. Sie – die Stiftung Mercator, die VolkswagenStiftung, die Bertelsmann Stiftung, die Freudenberg Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, der Stifterverband und die Vodafone Stiftung Deutschland – sind im Kuratorium des SVR vertreten. Die Geschäftsstelle in Berlin vertritt die Organisation nach außen. Insgesamt 21 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind hier beschäftigt.
Weitere Informationen finden Sie hier.
Deutschland wird auch zukünftig auf Fachkräftezuwanderung angewiesen sein. Der Referentenentwurf für [...]
Manche Asylbewerber und -bewerberinnen kommen aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland und [...]
Der UN-Migrationspakt stellt erstmals eine Übereinkunft der internationalen Staatengemeinschaft zur [...]